Zum Mitverschulden bei Sturz auf von Bauarbeiten betroffenen, ungesicherten, von Schnee bedeckten Gehweg

BGH, Urteil vom 06.05.1997 – VI ZR 90/96

Zu den Voraussetzungen eines Mitverschuldens des Geschädigten beim Sturz auf einem ungesicherten, von Baumaßnahmen betroffenen und mit Schnee bedeckten Gehweg.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 30. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München mit dem Sitz in Augsburg vom 8. Januar 1996 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Klägerin erkannt worden ist.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand
1
Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Schadensersatz wegen der Folgen eines Sturzes in Anspruch, den sie auf dem Gehweg vor dem Baugrundstück einer Bauherrengemeinschaft erlitten hat, deren Mitglied der Beklagte ist.

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Die Klägerin hat vorgetragen, sie sei am Morgen des 8. März 1993 auf dem schneebedeckten Gehweg gestürzt, der an der Unfallstelle infolge von Baumaßnahmen um 12 cm vertieft (“ausgekoffert”) gewesen sei; die vertiefte und nicht vom Schnee geräumte Stelle des Gehwegs sei weder abgesperrt noch durch einen Warnhinweis gesichert gewesen. Sie habe infolge des Sturzes, für den der Beklagte einzustehen habe, erhebliche Verletzungen davongetragen.

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Die auf Feststellung der Schadensersatzpflicht des Beklagten gerichtete Klage hatte vor dem Landgericht Erfolg. Hiergegen hat sich der Beklagte mit seiner Berufung gewandt, während die Klägerin im Wege der Anschlußberufung hinsichtlich eines Teils ihres materiellen und immateriellen Schadens zur Leistungsklage übergegangen ist. Das Berufungsgericht hat der Klage nur unter Berücksichtigung eines mit 40 % bewerteten Mitverschuldens der Klägerin am Unfallgeschehen stattgegeben und auf dieser Grundlage den Beklagten – neben der Feststellung seiner Schadensersatzpflicht zu 60 % – zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 12.000 DM, eines Haushaltsführungsschadens von 24.929,13 DM und der Kosten eines ärztlichen Attests in Höhe von 30 DM, jeweils nebst Zinsen, verurteilt. Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin, die vom Beklagten weiterhin Ersatz des vollen ihr entstandenen Schadens begehrt.

Entscheidungsgründe
I.

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Das Berufungsgericht hält den Beklagten wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für schadensersatzpflichtig. Jedoch müsse sich die Klägerin ein mitwirkendes Verschulden am Zustandekommen des Unfalls in Höhe von 40 % anrechnen lassen. Die Bauarbeiten, insbesondere die Auskofferung des Gehwegs, hätten schon etwa drei Wochen vor dem 8. März 1993 bestanden. Der Klägerin könne nicht verborgen geblieben sein, daß in näherer Nachbarschaft ihres Wohnhauses ein Neubau errichtet werde und daß sich in unmittelbarer Nähe der Unfallstelle ein Bauwagen befunden habe. Die Klägerin habe auch erkennen können, daß zur Unfallzeit Eisglätte bestanden habe, daß der Schnee auf dem Gehweg nicht geräumt gewesen und daß auch nicht gestreut worden sei. Es entspreche nicht der Lebenserfahrung, daß Schnee einen Niveauunterschied auf dem Gehsteig zwischen zehn und 15 cm vollständig ausgleiche. Die Klägerin habe, wie sich aus dem von ihr benutzten wetterfesten Schuhwerk ergebe, am Unfalltag auch mit ungünstigen Straßenverhältnissen gerechnet.

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Unter diesen Umständen sei davon auszugehen, daß die Klägerin die gebotene Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten zumindest fahrlässig verletzt habe. Sie müsse daher den ihr entstandenen Schaden zu 40 % selbst tragen.

II.

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Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen den Vorwurf, der Klägerin sei ein Mitverschulden im Sinne des § 254 Abs. 1 BGB am Unfallgeschehen anzulasten, nicht.

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Ein solcher Vorwurf läßt sich weder darauf gründen, die Klägerin habe sich nicht in gebotener Weise auf die Gefahren an einer Baustelle eingestellt, noch darauf, sie habe ihr Verhalten nicht im erforderlichen Maße den winterlichen Verhältnissen auf Straßen und Wegen angepaßt.

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1. Die Revision rügt zu Recht, daß das Berufungsgericht nicht verfahrensfehlerfrei festgestellt hat, die Klägerin habe den durch die Bauarbeiten veränderten Zustand des Gehwegs, nämlich die Auskofferung und die dadurch entstandene Vertiefung, gekannt oder hätte ihn jedenfalls kennen müssen.

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a) Es mag dahinstehen, ob das Berufungsgericht bei der hier gegebenen Sachlage davon ausgehen konnte, daß die Klägerin, die in der Nachbarschaft wohnte, von der Errichtung des Neubaus auf dem betreffenden Grundstück der Bauherrengemeinschaft wußte. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts besagt eine allgemeine Kenntnis davon, daß eine derartige Baustelle eingerichtet ist, noch nichts darüber, ob die Klägerin auch den konkreten Zustand des Gehwegs vor der einen Seite des Baugrundstücks kannte oder kennen mußte; bei einem Neubau ist es keineswegs selbstverständlich oder naheliegend, daß der Gehweg vor dem Anwesen ausgekoffert und entsprechend vertieft wird. Es hätte konkreter Feststellungen durch das Berufungsgericht dafür bedurft, weshalb die Klägerin unter den hier gegebenen tatsächlichen Umständen mit derartigen Baumaßnahmen am Gehweg zumindest hätte rechnen müssen.

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b) Die Revision weist zutreffend darauf hin, daß die Klägerin im Berufungsrechtszug unbestritten vorgetragen hat, sie sei, obwohl sie in der Nähe des Unfallorts wohne, an der betreffenden Stelle “wochen-, wenn nicht monatelang nicht vorbeigekommen” und habe keine Kenntnis davon gehabt, daß der Gehweg aufgerissen gewesen sei. Diesen unstreitigen Sachvortrag hätte das Berufungsgericht berücksichtigen müssen. Es durfte hierüber nicht mit der pauschalen Überlegung hinweggehen, es sei “nicht glaubhaft, daß die Klägerin von alledem wochenlang nichts bemerkt habe”, zumal sich hieraus nicht entnehmen läßt, ob das Berufungsgericht insoweit von einer Kenntnis der Klägerin lediglich hinsichtlich der Bauarbeiten schlechthin oder darüberhinaus auch hinsichtlich der Auskofferung des Gehwegs ausgehen wollte. Diese Überlegung des Berufungsgerichts machte daher ins einzelne gehende Feststellungen zur Kenntnis oder zum Kennenmüssen der Klägerin bezüglich der Vertiefung des Gehwegs nicht entbehrlich.

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c) Daraus, daß die Klägerin sich nicht in besonderer Weise auf die durch die Auskofferung geschaffene Veränderung des Gehwegs eingerichtet hat, kann ihr daher auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen kein Mitverschuldensvorwurf gemacht werden.

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2. Der im Berufungsurteil festgestellte Sachverhalt rechtfertigt auch nicht die Beurteilung, die Klägerin habe durch ein Verhalten, das den durch Schnee und Eis herbeigeführten winterlichen Verhältnissen nicht genügend Rechnung getragen habe, zur Schadensentstehung beigetragen.

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a) Die Klägerin hat sich auf die ungünstigen Straßen- und Wegeverhältnisse insbesondere dadurch eingestellt, daß sie entsprechendes wintergerechtes Schuhwerk trug. Daß sie sich, als sie so ausgerüstet den Gehweg benutzte, an der Unfallstelle sorgfaltswidrig verhielt, läßt sich dem im Berufungsurteil mitgeteilten Sachverhalt nicht entnehmen.

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aa) Der Klägerin, die im Unfallzeitpunkt 58 Jahre alt und gesundheitlich nicht beeinträchtigt war, kann weder zum Vorwurf gemacht werden, daß sie bei diesen Witterungsverhältnissen überhaupt ihr Haus verließ, noch ist ihr anzulasten, daß sie sich auf dem nicht vom Schnee geräumten Gehweg vor dem Neubaugrundstück bewegte. Kommt der jeweilige Grundstückseigentümer seiner Räumpflicht auf dem Gehweg vor seinem Anwesen nicht nach, so bleibt einem Fußgänger regelmäßig nichts anderes übrig, als den nicht geräumten Gehweg zu benutzen; auf ein Ausweichen auf die Fahrbahn, die häufig zusätzliche Gefahren birgt, kann ein Fußgänger grundsätzlich nicht verwiesen werden.

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bb) Entgegen der in der Revisionserwiderung vertretenen Auffassung ist der vorliegende Fall nicht dem Sachverhalt vergleichbar, der den Senat veranlaßte (Senatsurteil vom 20. November 1984 – VI ZR 169/83NJW 1985, 482 ff.), ein erhebliches Mitverschulden desjenigen zu bejahen, der sich auf einen erkennbar stark eisglatten und daher äußerst gefährlichen Gästeparkplatz eines Lokals begeben hatte, um zu seinem Wagen zu gelangen, anstatt zuvor den Gastwirt zu bitten, die Eisfläche zu bestreuen. Eine entsprechende Situation war vorliegend nicht schon deshalb gegeben, weil der Gehweg vor dem Neubau nicht vom Schnee geräumt war; von einem Fußgänger kann nicht erwartet werden, daß er, wenn er auf einen nicht geräumten Gehwegabschnitt trifft, zunächst am betreffenden Anwesen klingelt und zu erreichen versucht, daß der Schnee entfernt wird.

16
b) Die Feststellungen des Berufungsgerichts tragen auch nicht seine Beurteilung, die Klägerin hätte die Gefährlichkeit der durch die Bauarbeiten bewirkten und vom Schnee teilweise verdeckten Gehwegabsenkung bei ihrer Annäherung an die Unfallstelle erkennen und sich entsprechend darauf einrichten müssen. Auch hiergegen wendet sich die Revision mit Erfolg.

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aa) Das Berufungsgericht hat nicht im einzelnen zu klären vermocht, wie es am Unfallmorgen an der Stelle aussah, an welcher, aus der Gehrichtung der Klägerin gesehen, der “normale” Gehweg in den “ausgekofferten” Gehweg überging. Im Berufungsurteil wird insoweit lediglich auf eine Lebenserfahrung verwiesen, daß Schnee einen Niveauunterschied auf dem Gehsteig zwischen zehn und 15 cm nicht vollständig ausgleiche, vielmehr die Konturen durch den Schneefall sanft ausgeglichen würden, die Absenkung selber aber, wenn auch in vielleicht abgeschwächtem Umfange, erkennbar sei. Auch wenn diesen Ausführungen zu folgen sein sollte, ergibt sich hieraus noch kein hinreichender Anhaltspunkt dafür, in welchem Ausmaß die immerhin beträchtliche Schneedecke im konkreten Fall gerade an der hier entscheidenden Stelle die Gefährlichkeit der getroffenen Baumaßnahmen verdeckte, ob und wie der Schnee an der durch die Vertiefung geschaffenen Stufe verweht war und dergleichen. Die nicht fernliegende Möglichkeit, daß die dicke Schneeschicht die wahre Gefährlichkeit der Unfallstelle weitgehend verschleiert hat, ist keineswegs ausgeräumt. Das Berufungsgericht hat insoweit nicht hinreichend berücksichtigt, daß alle verbleibenden Unklarheiten zu Lasten des für das Mitverschulden der Klägerin beweispflichtigen Beklagten gehen.

18
bb) Verfehlt ist auch die Überlegung des Berufungsgerichts, die Klägerin sei verpflichtet gewesen, die gleichen Erwägungen wie der Zeuge A. anzustellen, der selbst nicht auf dem Gehsteig gegangen, sondern wegen dessen Gefährlichkeit “immer außen herum gelaufen” sei. Der Zeuge A. war Bewohner des Neubaus und darüberhinaus dessen Hausmeister, kannte also die Örtlichkeiten, insbesondere auch die Auskofferung des Gehwegs, genau; eine solche Kenntnis hat das Berufungsgericht bei der Klägerin gerade nicht verfahrensfehlerfrei festgestellt.

19
3. Insgesamt enthalten die bisher vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen keinen konkreten Anhaltspunkt, aus dem in rechtlich beanstandungsfreier Weise auf ein der Klägerin anzulastendes Mitverschulden am Unfallgeschehen geschlossen werden könnte. Da die Annahme eines Mitverschuldens nicht nur den Anspruch auf Ersatz materiellen Schadens berührt, sondern auch auf die Höhe des zuerkannten Schmerzensgeldes durchschlägt, ist das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als es zu Lasten der Klägerin ergangen ist. Diese wird im erneuten Berufungsdurchgang Gelegenheit haben, auch zu ihren übrigen Rügen gegenüber dem Berufungsurteil, insbesondere zur Höhe des Schmerzensgeldes, weiter vorzutragen.

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